Warum das alte Kassenbuch meines Großvaters für mich ein Schatz ist

Heike Kugelmann • 8. Juni 2025

Warum das alte Kassenbuch meines Großvaters für mich ein Schatz ist....

Genauer gesagt ein Wohnschatz. Denn darum geht es bei meinem Beitrag zur Blogparade von Irina von Dein Leinen. Falls ihr wissen möchtet, was eine Blogparade ist, findet ihr hier mehr Informationen. Es ist eine Themensammlung, bei der Blogger sich gegenseitig zum Schreiben inspirieren und vernetzen, eine feine Sache also, um Verbindungen zwischen Menschen zu knüpfen. Irina ist Expertin für Leinenwohnartikel, insbesondere Bettwäsche und Kissen. Sie hat in der Blogparade mit dem Titel "Mein Wohnschatz" andere Blogger zum Schreiben animiert und mich damit sofort eingefangen. Hier findet ihr ihren Artikel über ihren Wohnschatz. 

Wenn deine Mutter dich bittet, ein Familienandenken zu bewahren...





Mein Wohnschatz ist das Kassenbuch meines Großvaters, den ich leider nie kennengelernt habe. Es steht in meinem Büro auf einem Bücherregal neben meinen Schreibtisch. Ich habe es von meiner Mutter geschenkt bekommen. Sie hatte dabei Tränen in den Augen und sagte zu mir: „Heike, ich möchte dass Du das in Ehren hältst, es ist von Deinem Opa“. Auch sie hat den Urheber, ihren Vater, nie wirklich kennengelernt.








Ausgerechnet Schokolade...



Mein Großvater war Handelsvertreter für den Lebensmittelgroßhandel und mit Schwerpunkt für den Bereich Zucker und Schokoladen. Ja, tatsächlich, verkürzt gesagt könnte man sagen, mein Großhändler sorgte dafür, dass Pralinenhersteller und Schokoladenfabrikanten mit den entsprechenden Zutaten und Rohstoffen versorgt wurden. Wer mich persönlich kennt, hat jetzt geschmunzelt, ich meine SCHOKOLADE! Doch die Geschichte bleibt leider nicht so leicht und unbekümmert.


Bevor ich mich dem persönlichen Teil zuwende möchte ich aber dieses Zeitdokument an sich einordnen. Dieses schlichte Buch ist alles zugleich: Datenspeicher, Biuchhaltung, Steuerunterlage. So einfach war die Welt damals in den dreißiger Jahren noch. Kein Duplikat, nur dieses schlichte Buch. Den Beruf des Handelsvertreters gibt es so kaum mehr. Samples werden per Klick geordert und bei Gefallen eine entsprechende Menge bstellt, wieder nur ein paar Mausklicks. Persönliche Beratung gibt es per Zoom-Call. Wofür früher ein Mensch notwendig war und dem durch seine Tätigkeit ein Auskommen für sich und seine Familie ermöglicht wurde, surrt heute ein Rechenzentrum. Die Effizienzsteigerung? Immens! Nach der Digitalisierung stehen wir gerade an einer neuen Schwelle durch die KI Revolution. Werden meine Enkel mal in mein Musterbuch - Papier - schauen und ähnlich davor stehen wie ich vor dem Kassenbuch meines Opa und sagen: Oma hat die Rohentwürfe für diese Herzen noch selbst fotografiert und arangiert oder die Illustrationen gezeichent, wenn auch schon auf dem Tablett. Werde auch ich bald einer KI sagen, wie ich das nächste Herz haben möchte? Noch schafft sie die Auflösung für meine großen Formate nicht, nur eine Frage der Zeit.


Und was bedeutet das nun für mich persönlich:


Kommen wir zum persönlichen Teil. Wenn ich das Buch in den Händen halte, fühle ich viele Dinge.
Beginnen wir mit den Leichteren.

Respekt und Bewunderung
vor dieser Präzision. Als visueller Mensch blicke ich ehrfürchtig auf diese wie gedruckt wirkenden Seiten. Das ganze Buch ist so wie diese Seite hier. Makellos, keine einzige Korrektur, alles gleichmäßg wie gestochen verfast in dieser wunderschönen Handschrift. Hier war ein Mensch am Werk, der gerne mit der Hand schrieb. Der sein Geschäft mit Achtung und Achtsamkeit, Fleiß und Disziplin führte. Von dem berühmten Architekt Ludwig Mies von der Rohe stammt der Satz: „Gute Architektur beginnt mit der Art und Weise, wie man einen Bleistift spitzt.“ Sind diese Seiten nicht schon rein optisch wunderschön? Daraus ziehe ich eine stumme Mahnung, wenn sich mal wieder Papiere und Zettel mir Ideen auf dem Schreibtisch häufen und das Email-Postfach überquillt.






Verbundenheit durch die Zeit






Verbundenheit:  Auf der ersten Seite steht „Mit Gott“. Auch das hat mich sehr berührt. Ein feiner gläubiger Mann muss er gewesen sein, der Rudolf Müller, Vater zweier Kinder, meiner Mutter Brigitte Margarethe und ihres älteren Bruders Udo. Nur „Mit Gott“ steht dort, sonst nichts. Keine langen Sätze wie: Dies ist das Kassenbuch der Firma von… etc. etc. so dass die Person sich in den Mittelpunkt gestellt hätte. Nein, „Mit Gott“ war ausreichend, sagte alles, was gesagt werden musste, dann beginnen die Eintragungen. Ich hoffe sehr, dass sein Glaube ihm geholfen hat, auf dem Weg, der vor ihm lag. Denn dieses Buch beginnt im Jahr 1936, die Seiten sind in dieser Zeit noch gut gefüllt, Die Familie konnte von den Handesaufträgen gut leben. Doch von Jahr zu Jahr nehmen die beschriebenen Zeilen ab. Deutschland stellte auf Kriegswirtschaft um. Schokolade und Pralienen waren zuvor schon Luxus gewesen, nun wurden sie unerschwinglich und  auch unerwünscht. Die kleine Familie, 1939 wurde meine Mutter in Weimar geboren, lebte in immer schwierigeren Umständen. Doch es sollte noch schlimmer kommen. 



Von der Unvorstellbarkeit und der...



...Traurigkeit: Eine Nachbarin denunzierte meine Großeltern, weil kein Führerbild im Wohnzimmer hing. Der Ur-Großvater meiner Oma war ein Spanier, jüdischen Glaubens. Auch wenn das zu lange her war, um für meine Oma noch zu einer Gefahr zu werden, so hatte das Ehepaar für die unmenschliche herrschende Politik nichts übrig. Mein Großvater wurde in Folge dieses "Versäumnisses" umgehend eingezogen. Er, der Literatur, Lyrik und das Theater geliebt hatte, der Schokoladenvertreter, musste an die Ostfront ziehen. Diese Abschiedsszene ist für mich unvorstellbar. Wirklich unvorstellbar. Ein paar wenige Aufträge wickelte meine Großmutter und ein Kollege meines Opas noch ab, dann bleiben die Seiten leer. Ein paar Einträge noch im Jahr 1941. Als mein Großvater ein einziges Mal auf Fronturlaub heimkam, war er ein gebrochener Mann. Meine Mutter, 2 1/2 Jahre alt, hatte Angst vor ihm und fragte meine Oma: „Mama, wer ist denn der Mann?“. Die Aufzeichnungen im Kassenbuch enden im August 1942. Kurz darauf geriet er in Kriegsgefangenschaft in Tschechien und starb mit 36 Jahren unter ungeklärten Umständen im Gefangenenlager. So stand es in der Notiz, die meine Oma erhielt. So verlor meine Oma die Liebe ihres Lebens, wurde zur Kriegswittwe, meine Mutter und ihr Bruder zur Halbwaisen. Wie Millionen andere Kinder dieser Generation auch...


Und darum steht dieses Buch in meinem Büro. Ich sehe es jeden Tag. Es erinnert mich jeden Tag daran, wie unendlich dankbar wir sein müssen, für Frieden und Freiheit. Dass das nicht selbstverständlich ist und unsere Demokratie und die Freiheitlich Demokratische Grundordnung, auf der sie basiert, so ein unendlich hohes Gut. Und es macht mich sehr traurig, diese Werte heutzutage erneut bedroht zu sehen. Und all das geht mir durch den Kopf, wenn ich die wunderschöne Handschrift meines Opas betrachte, die so viel Zuversicht ausstrahlt auf den ersten Seiten - "Mit Gott". Diese Zahlen, die in den frühen Jahren für Wohlstand stehen, in den späteren für Entbehrung und deren Verschwinden für das viel zur frühe Ende seines Lebens. 


Meine Oma hat dieses Buch zur Erinnerung mitgenommen als sie 1946 von Weimar zu entfernter Verwandtschaft nach Vlotho in der Nähe von Hannover umsiedelte, um die sowjetische Besatzungszone zu verlassen. Sie konnte nicht viel mitnehmen, da die Grenzübertritte zwischen den Zonen damals schon streng überwacht wurden, aber dieses Buch, das musste mit. Und nun steht es bei mir! Und verbindet mich mit den Frauen in meiner Familie, meiner Mutter und meiner Oma. Ich werde es irgendwann meiner Tochter schenken. Wenn ich es anschaue, dann sehe ich diese präzise gefüllten Seiten in dieser schönen Schrift und noch so viel mehr...




Blogartikel #16 "Mein Wohnschatz: Warum das Kassenbuch meines Großvaters für mich ein Schatz ist?", erstveröffenlicht am 09.06.2025



Hast Du auch so einen Wohnschatz? Ein Stück in Deiner Wohnung, dass Dich mit Erinnerung erfüllt?

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